Am Rande von #Aufschrei – Ein paar Gedanken aus einer anderen Perspektive

Während die Debatte um Sexismus mittlerweile in der normalen Presse angekommen, sitze ich an der Arbeit und überfliege bei Twitter #aufschrei.

Unabsichtlich belausche ich die drei junge Frauen, Kundinnen, die sich lautstark darüber unterhalten, wie heiss Typen Overknees finden, dann übergangslos über die Modells beim Pin Up Wettbewerb der Dynamite (Rockabillymagazin) lästern, Noten geben, jedes Gramm Fett bewerten…
Weiter gehts über ihre Männer, mäßig jugendfrei. Es gehört augenscheinlich dazu, dass ich alles mithöre, auch, wenn sie wissen, dass ich die Männer ebenfalls kenne. Im Gegenteil, sie erzählen mir freiwillig und gerne ihre Intimitäten, auch direkt und ihre Freunde tun dies auch. Sie wissen mittlerweile schon, dass mir in ihren Geschichten oft die Liebe fehlt, der Respekt, dieser Moment, an dem man ein verliebtes Gribbeln im Bauch kriegt, nicht, weil der Mensch der einem gegenüber sitzt so übermäßig sexy ist, sondern weil man wirklich glaubt verstanden zu werden, einen Seelenverwandten gefunden zu haben.
Nein – hier geht es klassisch um Männerklischee und Frauenklischee, nicht um Menschen.

Manchmal glaube ich, sie erzählen mir das gerade weil sie wissen, dass mir diese Welt fremd ist und sie sich darüber „gut“ präsentieren können. Ich erklär ihnen häufiger mein Unverständnis über die Art, wie sie sich geben, was für Aktionen sie bringen, was sie sich gefallen lassen, wie sie versuchen zu manipulieren, wie oberflächlich sie in ihren Wertungen sind, aber ich verurteile sie deswegen nicht als Mensch
Vermutlich ist das der Grund warum sie immer wieder kommen.
Ich hoffe insgeheim, dass wenigstens ein ganz klein bisschen von dem hängen bleibt was ich sage. Sind ja alle sehr jung und noch in der Testphase…
Wenn man sich etwas länger „kennt“ und es ruhig im Laden ist geht es durchaus auch über ihre Gefühle.
Frauen meist ganz nach Klischee recht schnell, Männer erst, wenn sie wirklich Vertrauen gefasst haben.
Ich glaube manchmal, junge Männer tun das, weil ich sonst eigentlich fast nur über Politik mit ihnen rede und ich deshalb deren Rollenerwartungshaltung einer Frau nicht so wirklich erfülle;-)
Das macht es wohl einfacher.
Sie erzählen mir von ihren Ängsten veralbert zu werden, von dem Druck, den sie spüren ihrer Rolle gerecht zu werden, von ihren Unsicherheiten gegenüber Frauen, von den Dingen, bei denen sie sich benachteiligt fühlen, bei denen sie sich gedemütigt fühlen und ich höre einfach zu.
Ich erkläre das  Phänomen des falschen Zählens (nur weil 3 Frauen/Männer so drauf sind, kann man nicht verallgemeinern), versuche einfach mal da zu sein und Selbstreflexion ohne Angriff anzustoßen. Manchmal versuche ich auch meine naive Vision zu erklären.  Eine Welt in der sich Menschen begegnen und gegenseitig unterstützen, in der es nicht ein ständiges Machtgerangel um Dominanz/ Unterwürfigkeit gibt, in der man fair miteinander Kompromisse im Umgang aushandelt, in der man Schwächen haben und zeigen darf… und ich hoffe immer noch, dass ein klein bisschen hängen bleibt…soweit zu meinem Alltag.

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Ich lese weiter in den Tweets  und die Situation fühlt sich wirklich absurd an

Es ist nicht die erste mediale Empörungswelle, die ich zum Thema miterlebe, aber es ist die erste, bei der ich bewusst denke, dass jeder so sehr in seiner eigenen Realität fest steckt, dass  gemeinsame Lösungen nicht mehr möglich sind… und zwar nicht nur die gemeinsame Lösung zwischen Männern und Frauen, sondern gleichfalls zwischen Männern und Männern und Frauen und Frauen  und ich hab mich selten soo zwischen allen Stühlen gefühlt.

Auf der einen Seite sehe ich in/an meiner Kundschaft, die größtenteils so zwischen 13 und 20 ist, dass alte Rollenklischees wieder vermehrt aufploppen ( Mann zahlt, Frau lächelt, dafür bestimmt er über die Länge des Rocks – Frau unterhält sich mit mir über Soziales,  Mann über Politik, Frau versucht zu Vernunft zu erziehen, Mann spielt leicht entnervt mit, gemeinsam denkt man ans Heiraten und die erste gemeinsame Eigentumswohnung, sie kümmert sich um die Kinder, er ums Geld) auf der anderen Seite erlebe ich Feministinnen, die diesen Trend komplett ignorieren und immer lauter Männern alle Schuld dieser Welt zuweisen…  (mein Eindruck)

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Ich lese weiter #aufschrei

Ich gerate in eine Diskussion um Väterrechte – eine Frau, die sich empört, dass sich ein Mann bei #Aufschrei einmischt. Er erzählt seine persönliche Erfahrung und bekommt die Antwort:
„na dann sei doch Müttern, die ihr Kind für sich haben wollen gegenüber tolerant.“
Mir schnürt sich ein wenig die Kehle zu – Frauen mögen ja bei vielen Dingen benachteiligt sein, bei Sorgerechtsstreit sind sie es aber definitiv nicht und Frauen gegenüber, die Kindern ohne triftigen Grund ihre Väter vorenthalten wollen, möchte ich auch als Frau nicht tolerant gegenüberstehen. In meinem entfernten Bekanntenkreis kommt das gleich mehrfach vor.
Aber sie setzt noch einen drauf :

„es gibt natürlich auch aggressive Frauen,nur statistisch sind sie in der Minderheit und deswegen nicht relevant“

Wie bitte ? Und Opfer von Frauen sind dann auch nicht relevant ? Leider sind mir auch falsche Beschuldigungen bezüglich Übergriffen schon mehrmals untergekommen, einmal zb von der 14 Jährigen Tochter eines Freundes, die nachts betrunken aufgegriffen wurde und einen dazugerufenen Arzt mit der Drohung, sie zeige ihn wegen sexueller Belästigung an, versucht hat unter Druck zu setzen. Ich werde Jugendlichen gegenüber selten laut, aber da bin ich mächtig laut geworden, denn das verhöhnt Opfer tatsächlicher Übergriffe mehr als irgendein Unbeteiligter es je tun könnte.

aber hey – das ist ja ein Einzelfall, und somit leider nicht relevant.

Der Spruch kommt mir grauenhaft bekannt vor – nur eben von einer anderen Seite 🙁

Es folgt die übliche Frage, ob ich denn gar nicht mit Frauen solidarisch sein könne, gepaart mit der Aussage, dass ich ja nur Männern gefallen wolle – ein Argumentationsmuster, dass bei Diskussionen mit frauenbewegten Frauen leider nicht mehr als Einzelfall zu bezeichnen ist

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Weiter bei #aufschrei

Ich lese bei Heute.de eine Aussage von Anke Domscheit-Berg:
„Die Statistiken unterstützen diese Aussage. Ich kenne unzählige Frauen, die von sexualisierter Gewalt erzählen können – aus erster Hand, inklusive meiner eigenen Familie. Ich habe auch selber solche Erfahrungen schon gemacht. Ich kenne persönlich aber keinen einzigen Mann, der mir jemals davon erzählt hat.“
http://www.heute.de/Ja-wie-sollen-denn-M%C3%A4nner-jetzt-sein-26337330.html

Ich stelle mir ernsthaft die Frage, woran es liegt, dass mir auf Anhieb mehrere Fälle von sexuellen Übergriffen auf Männer einfallen und warum die mir das erzählen und Anke nicht.
Nebenbei fällt mir ein, dass ich einige Frauen „kenne“, die glauben, man könne Männer nicht vergewaltigen, denn man „sehe“ ja, dass er „will“ und die partout nicht verstehen, dass ein Nein bei einem Mann auch Nein bedeutet, auch wenn sich da was tut – und ich muss daran denken, dass grade junge Männer eine wahnsinnige Hemmung haben über sowas zu sprechen, denn sie werden dann leider allseits zum Gespött.  Schwächlinge, die sich nicht mal gegen eine Frau wehren können, das ist so ziemlich gleichermassen geächtet von Männern als auch Frauen (auch Frauenbewegten, die sich leider gern mal  ausfallend äussern und das ganze öffentlich in Frage stellen)

jetzt les ich noch die männliche Stimme…
Eine (männliche) Stimme zum #Aufschrei
und frage mich einmal mehr mit wem sich Blogschreiber so unterhalten
Die Frage zb:

  • Wann hast DU als Mann das letzte Mal Angst gehabt, nachts auf der Straße zu sein? Hier in Deutschland, in deiner ganz normalen Nachbarschaft! Und warum empfiehlt man einer Frau dies nicht zu tun? Warum kann sie dieses Recht aus Angst nicht uneingeschränkt wahrnehmen? Wenn die Belästigung von Männern tatsächlich auch so ein Problem ist, wieso gibt es für diese dann keine derartigen Ratschläge?

Ich muss ausserirdisch sein, denn ich kenne tatsächlich kaum einen Mann, der, direkt darauf angesprochen, _keine_ Angst hat Nachts alleine durch die Stadt zu ziehen und keinen, der die nicht spätestens dann kriegt, wenn von hinten schnelle Schritte hinter ihm ertönen. Deutlich unterscheiden tun sich die Reaktionen darauf und ja, Männer gehen damit noch weniger hausieren und erzählen das nur in Vertrauenssituationen. (Ich habe solche Gespräche relativ oft, weil ich, zum Erstaunen vieler Männer sehr oft nachts alleine durch die Stadt gehe. Es ist imho ein Irrglaube, dass es tagsüber sicherer sei)

Ich frage mich, was der Autor für ein Männerbild hat –  der starke Typ, der über den Dingen steht, nie unsicher ist, der unerschrockene Macker und Macher?
Meine Gedanken schweifen ab. Ich muss an eine Studie zu Dunkelziffern bei Gewalttaten denken. Man fragte nach den Anzeigegewohnheiten und es stellte sich heraus, dass Gewaltverbrechen an Deutschen von Menschen mit Migrationshintergrund zu mEn 90% zu einer Anzeige gelangen, umgekehrt aber nur um die 50. Ebenso zeigen Deutsche Deutsche weniger an, und Migranten unter sich sind da auch sparsamer. Das verzerrt mehr als nur die Statistik, das verzerrt unsere Wahrnehmung und bedient unsere Vorurteile.
Das Anzeigeverhältnis bei Gewalt „gegen Frau von Mann“ und „Mann gegen Frau“ ist da ähnlich unterschiedlich, soviel weiss man schon. Und mal Hand aufs Herz, wer hat noch nie einen abfälligen Spruch in seinem Bekanntenkreis über Männer gehört, die geschlagen werden ?
Und was würde passieren, würde er sich wehren…das ist ganz schön perfide
Das Bild des coolsouveränen Sunnyboys, der nie in der Situation ist, sich Erniedrigungen von ChefInnen anzuhören entstammt imho auch eher der Fernsehwelt.
Mal davon ab, dass dieser vermutlich doch noch irgendwo realexistierende Typus ziemlich wahrscheinlich weder den Blog des Autors, noch dessen twitteraccount verfolgt – und so mit ganz grosser Sicherheit so auch nicht ins Grübeln kommt.
Ich frage mich also wer das Zielpuplikum  dieses Beitrags ist – das frag ich mich ein wenig bei dem ganzen #aufschrei Kram

Vermutlich kommt jetzt wieder der Punkt, an dem mir vorgeworfen wird, ich wolle das Leid der Frauen verwässern, abschwächen, relativieren in dem ich schreibe, dass es hier kein schwarz/weiss gibt, bzw, dass die Linien anders verlaufen:
Es gibt Menschen, die sind bereit ihr Handeln zu hinterfragen und welche, die sind es nicht.
Imho ist das keine Frage des Geschlechtes, sondern der Sozialisierung –  und ich werde einen Teufel tun, Probleme die Menschen haben auf ein Geschlecht zu reduzieren.

Darüber hinaus finde ich den Gedankengang absurd, dass Erfahrungsberichte und Perspektiven zu Sexismus von Männern nur dazu dienen sollen Erfahrungen von Frauen zu relativieren.

Nein – sie wollen sich damit mitteilen, genauso wie Frauen dies auch tun. Es würde der Diskussion gut tun, wenn BEIDE Seiten über ihre Ängste, Wut, Enttäuschung, Ekel, offen und akzeptiert reden könnten.

Eine Erfahrung wird nie schlimmer oder harmloser durch Erfahrungen von anderen, sie vervollständigen nur das desaströse Bild unserer Gesellschaft.

Eine Welt mit weniger Sexismus kann es nur geben, wenn man nicht in bösen und akzeptierten Sexismus unterscheidet – und das gilt eben für Frauen wie für Männer.

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