Das Grundgesetz ist 68 geworden…

CC BY-SA 2.0 fluxka

…und seit einem Jahr in Rente.

Zumindest das kann einem durch den Kopf gehen, wenn man sich die Gesetzesentwürfe und Richtlinien der Bundesregierung des letzten Jahres anschaut. Aus dem einst klug und weitsichtig verfassten Gerüst für eine lebendige Demokratie, wird langsam ein klappriges Konstrukt, dessen Verteidigung von Bürgern immer wieder mühsam vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten werden muss. Freiheitsrechte weichen mehr und mehr dem Versuch, ein Supergrundrecht Sicherheit zu etablieren und mit dem allgegenwärtigen Hinweis auf Terrorismusgefahr blenden viele aus Angst aus, dass diese Gesetze weder Terroristen aufhalten, noch nur für sie allein gelten. Das Aufhalten scheitert in den bekannten Fällen nicht am Mangel an Information, es handelte sich überwiegend um Polizei und Diensten bekannte Täter, sondern an fatal fehlerhaften Einschätzungen der vorliegenden Informationen, einhergehend mit mehr als zweifelhaften Entscheidungen bisweilen Straftaten nicht zu ahnden, um vielleicht an Hintermänner zu kommen.

Geschaffen wurden weitreichende Voraussetzungen für Überwachungsinfrastrukturen, online und offline, eine Verwässerung der Trennung zwischen Polizei und Diensten, eine massive Aufweichung von Datenschutz sowohl bei staatlichen als auch bei privaten Stellen, eine biometrische Datenbank (Die Zweckbindung “Zur Erfüllung ihrer Aufgaben” bei Nachrichtendiensten ist vermutlich nur noch durch komplettes Weglassen jeglicher Vorgaben zu toppen), und ein Abbau von Kontrollrechten und Informationsmöglichkeiten.

Nicht nur die NSU-Untersuchungsausschüsse, auch der NSA-Untersuchungsausschuss haben die Grenzen der parlamentarischen Kontrolle deutlich aufgezeigt. Statt Nachbesserungen im Sinne der Bevölkerung anzubringen, wurden letztlich die Gesetze so angepasst, dass bisher illegale Maßnahmen legalisiert wurden. Das Erscheinen eines Buches des Ausschussvorsitzenden des NSA-UA bevor überhaupt der Abschlussbericht vorliegt, setzt dem ganzen noch die Krone auf.

Gerade bei der Neustrukturierung des BKA-Gesetzes sollte jedem von uns bewusst sein, dass mittlerweile über 3,5 Ecken jeder mit jeden verbunden ist. Die Chancen über diese 3,5 Ecken in irgendeiner Datenbank zu landen, auch, wenn man “nichts zu verbergen” hat, steigen gerade massiv, nicht zuletzt auch durch Neubewertungen von Straftatbeständen. Kommen Wohnungseinbrüche generell in die Liste der schweren Straftaten kann man mit einer fast flächendeckenden Funkzellenabfrage rechnen.

Zeitgleich werden Rechte und Mittel der Nachrichtendienste aufgestockt und neue Behörden geschaffen, zb ZITiS, deren Aufgabe u.a. darin besteht unsere private Kommunikation zu entschlüsseln und die Berge an gesammelten Daten zu analysieren. Der Polizei werden Sonderrechte zugeteilt, die nicht nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 GG widersprechen, sondern sich auch einschüchternd auf die Wahrnehmung des Versammlungsrechts auswirken können und die Definition was noch unter Meinungsfreiheit läuft und was ein strafbarer Inhalt ist, wird demnächst in Hände privater Stellen gelegt. Zu guter Letzt tritt am 1.07. die Vorratsdatenspeicherung in Kraft.

Die im Grundgesetz enthaltenen Grundrechte definieren Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sie wahrzunehmen braucht es Vertrauen in den Rechtsstaat. Ein System was mehr und mehr auf Misstrauen, Intransparenz, Überwachung und Repression baut, fördert allerdings nur die Schere im Kopf.
Vielleicht haben wir noch die Chance zu verhindern, dass das Grundgesetz ein Papiertiger wird – Dafür müssen wir laut werden – JETZT!


Liste beschlossener, oder kurz vor dem Beschließen stehende Gesetze allein der letzten 365 Tage (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

DSAnpUG: Angedachte  Regelung zur Videoüberwachung  in § 4 BDSG-E erweitert massiv Möglichkeiten der öffentlichen Überwachung (gilt der Schutz von Leben, Gesundheit oder Freiheit von dort aufhältigen Personen als ein besonders wichtiges Interesse – siehe Videoüberwachungsverbesserungsgesetz) Kontrollmöglichkeiten der Datenschutzbehörden bei Berufsgeheimnisträgern eingeschränkt (§ 29  Abs. 3). Das betrifft unter anderem Apotheken,  Ärzte, Krankenhäuser, aber auch Suchtberatungsstellen und Anwälte und  Cloudservices, die mit  sensiblen Daten arbeiten.
Beschlossen: 27. April 2017,  Inkrafttreten: 25.05.2018
 
Videoüberwachungsverbesserungsgesetz  Verlagerung der Aufgabe der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit auf nicht-öffentliche Stellen, Verhältnismässigkeit nicht gegeben, kein Nachweis des präventiven Charakters
Beschlossen: 27. April 2017,  Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündung (4.05.17, BGBl Nr.:23)
Bodycam für die Bundespolizei
Erhöhung des allgemeinen Überwachungsdruck, Der Einsatz von Bodycams wirkt repressiv und vergrößert Distanz zwischen Polizei und Bürger
Beschlossen: 27. April 2017,  Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündung (15.05.17, BGBl Nr.:26)
 
Unter vielem Anderem: Zentrale Datenbank, Absenkung bis Wegfall der (bisher) strikten Zweckbindung
Beschlossen: 27. April 2017,  Inkrafttreten: 25.05.2018
Fluggastdatengesetz
5 Jahre Speicherung persönlicher Daten und  Informationen zur  Profilbildung, die deutlich über die bisher übermittelten hinausgehen. Von einer Reisehistorie über Flugunterbrechungen, Flüge, die nicht angetreten wurden, Essensbestellungen – im Grunde eine permanente Rasterfahndung
Beschlossen: 27.04.17, Inkrafttreten 25.5.2018
Novellierung des Europolgesetzes
Erweiterung des  Kreises der auf Europol-Analysedateien direkt zugriffsberechtigten Sicherheitsbehörden sowie der Art des Zugriffs auf Informationen zu strategischen und thematischen Analysen über das Treffer/kein-Treffer-Verfahren hinaus auf einen Vollzugriff, weitere Anpassungen betr. Datenschutzkontrolle, Schadenersatzleistungen bei widerrechtlicher Datenverarbeitung sowie Verpflichtung zur Verschwiegenheit für das Europol-Personal
Beschlossen: 27.04.17, Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündung
Auswertung von Steuerdaten /Deep Packet Inspektion

Beschlossen: 27.04.17, Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündung
 
des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften
Sonderrechte für die Exekutive finden sich sonst eher in autoritären Staaten. Während Richter in der Bewertung bislang den Kontext im Strafmaß berücksichtigen konnten, steht nun das Mindeststrafmaß von 3 Monaten Haft fest, und das ohne Nachweis einer Verletzung des Vollstreckungsbeamten, der Versuch reicht. Damit widerspricht das Gesetz nicht nur Art 3 GG (Gleichbehandlungsgrundsatz) , es wirkt auch massiv auf Art8GG, denn bei Demonstrationen kann ein Schubsen bereits zu 3-monatiger Haft führen. Insbesondere bei zivilen Ungehorsam ist mit einer erleichterten Kriminalisierung von Demonstrierenden zu rechnen. Das auch jetzt schon nicht selten seitens der Polizei gewählte Mittel der Gegenanzeige bei Anzeige von Polizeigewalt, wird zu weniger Anzeigen und damit zu noch weniger Kontrolle bei der Polizei führen.
Beschlossen: 27.04.17, Inkrafttreten: Am Tag der Verkündung (das wird zeitnah und sicher vor den G20 Protesten sein)
 
Gesetzes zur Förderung des elektronischen Identitätsnachweises 
Nicht nur kann man sich dann gegen die Aktivierung der elektronischen Funktionen nicht mehr wehren, neben Polizei und Zoll   bekommen auch MAD,  BND und Verfassungsschutz (Bund und Länder) die Möglichkeit des  automatisierten Lichtbildabrufs. In Berlin Südkreuz laufen gerade Test zur automatisierten Erkennung bei Videoüberwachung
Beschlossen: 18.05.17, Inkrafttreten:
Vorbehaltlich des Absatzes 2 am Tag nach der Verkündung in Kraft. (2) Die Artikel 2 und 4 treten am 1. Mai 2021 in Kraft
 
Massenhaftes Ausspähen und Vorhalten von Daten des weltweiten Internetverkehrs und der Telekommunikation einschließlich der Weiterleitung an ausländische  Dienste
Inkrafttreten: 31.12.16
 
Durch die Änderung der Strafprozessrechts darf in allen Fällen, in denen bisher TKÜ zulässig war, auch QuelleTKÜ eingesetzt werden, also Computer und Smartphones hacken dürfen. Die Statistiken zeigen, dass es sich dabei überwiegend um Drogen und Betrugsfälle handelt und nicht um welche, die tatsächlich Menschenleben, ihre Gesundheit und elementarsten Lebensgrundlagen gefährden, wie einst vom Bundesverfassungsgericht verlangt.
Aktueller Stand: In die Ausschüsse verwiesen
 
Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken
Auslagerung der Beurteilung, was strafbare Inhalte sind ohne richterlichen Beschluss an Plattformbetreiber, wie zb Facebook, die mit kurzen Fristen und empfindlichen Strafen eher präventiv strittige Inhalte löschen werden, damit ein massiver Eingriff in die Meinungsfreiheit. Aufbau einer Zensurinfrastruktur durch Implementierung von Upload-/Content-Filtern.
Am 16.05.17 den Ausschüssen zugewiesen, Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündung
 
Einschränkung des Ermessensspielraums für Richter durch neue Bewertung als schwere Straftat, mit Mindeststrafe von einem Jahr. Bei schweren Straftaten ist TKÜ möglich, demnächst vermutlich auch QuellenTKÜ
Am 16.05.17 den Ausschüssen zugewiesen
 

Erteilung spezieller Befugnisse an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zur Einrichtung gemeinsamer Dateien mit ausländischen Partnerdiensten, Verlängerung gemeinsamer Projektdateien der Sicherheitsbehörden auf nationaler Ebene, Möglichkeit präventiven Einsatzes Verdeckter Ermittler der Bundespolizei zur Bekämpfung der Schleusungskriminalität, Verifizierung der Identität der Nutzer von im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten (Prepaid-Tarife), Schließung einer Lücke im VIS-Zugangsgesetz und von Strafbarkeitslücken betr. Unterstützung verbotener Vereinigungen; Einschränkung von Grundrechten betr. Fernmeldegeheimnis
Beschlossen: 24.6.2016, Inkrafttreten: vorbehaltlich des Satzes 2 am Tag nach der Verkündung

 

Das Bundesarchivgesetz wurde geändert, um eine “schleichende Aushöhlung der Nachrichtendienste und ihrer Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung durch Archivanfragen zu verhindern” § 6 Absatz 1 Satz 2 wird jetzt wie folgt gefasst: „Unterlagen der  Nachrichtendienste sind anzubieten,  wenn sie deren Verfügungsberechtigung unterliegen und zwingende Gründe des nachrichtendienstlichen Quellen- und Methodenschutzes sowie der Schutz der Identität der bei ihnen beschäftigten Personen einer Abgabe nicht entgegenstehen.”  Darauf wird sich schon jetzt vom Kanzleramt berufen, um Informationen und Akten über ehemaligen BND-Quellen im Axel-Springer-Verlag nicht offenlegen zu müssen. Sollte das vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgehen ist das ist ein bedenklicher Eingriff in die Möglichkeit der demokratischen Kontrolle der Nachrichtendienste.
Gesetz vom 10.03.2017 – Bundesgesetzblatt Teil I 2017 Nr. 12 15.03.2017 S. 410, Inkrafttreten:16.03.2017

Massive Verschärfung des Asylrechts. Unter anderem massenhafte Durchsuchung Handys von Flüchtenden und Fussfesseln
Inkrafttreten: Am Tag nach der Verkündigung
des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern,
deren Haftstrafe verbüßt ist, deren Nutzen aber mehr als zweifelhaft  ist  und meines Erachtens maximal das subjektive Sicherheitsgefühl befriedigt – mehr Sicherheit bringt das nicht.
Gesetzliche Normierung der Befugnis des Bundesamts für Verfassungsschutz  zum verdeckten technischen Zugriff auf ein informationstechnisches System als Vorbereitungsmaßnahme einer Telekommunikationsüberwachung  (sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung); Einschränkung von  Grundrechten betr. Fernmeldegeheimnis; Änderung § 9 Bundesverfassungsschutzgesetz  
Am 21.03.17 den Ausschüssen zugewiesen 
Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes – Befugnis zur Online-Datenerhebung                                                 
Befugnis des Bundesamts für Verfassungsschutz zum verdeckten Eingriff in  informationstechnische Systeme angesichts der Nutzung moderner Informationstechnik durch den internationalen Terrorismus; Änderung § 9 Bundesverfassungsschutzgesetz    
Am 21.03.17 den Ausschüssen zugewiesen 
Aufhebung der Beschränkungen für Speicherung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten Minderjähriger durch den  Verfassungsschutz angesichts der Gefahr terroristischer Bedrohung auch durch Minderjährige; Änderung §§ 11, 13 und 22b sowie Aufhebung § 24 Bundesverfassungsschutzgesetz
Am 21.03.17 den Ausschüssen zugewiesen  
Erweiterung der Befugnisse des BKA sowie der Nachrichtendienste des Bundes und der Länder betr. Übermittlung bzw. Abfrage von Telekommunikationsverkehrsdaten im Rahmen der Abwehr von Gefahren durch den internationalen Terrorismus; Einschränkung von Grundrechten betr. Fernmeldegeheimnis;
Änderung § 113c Telekommunikationsgesetz, §§ 20m und 20w Bundeskriminalamtgesetz sowie § 8a Bundesverfassungsschutzgesetz
Am 21.03.17 den Ausschüssen zugewiesen  
Anpassung  der Regelungen zur vorsorgenden DNA-Untersuchung von  Körperzellen  (DNA-Identitätsmuster, genetischer Fingerabdruck) und  Speicherung zu Zwecken künftiger Strafverfahren an die Regelungen für den “klassischen” Fingerabdruck: Wegfall des Richtervorbehalts für Entnahme  und Untersuchung (außer bei zwangsweiser Entnahme), Verzicht auf qualifizierten Anlassverdacht und qualifizierte Negativprognose, eigenverantwortliche Prognoseentscheidung durch die Polizei;  Übergangsregelung; Einschränkung von Grundrechten betr. Recht auf körperliche Unversehrtheit
Am 21.03.17 den Ausschüssen zugewiesen