Verdrängte “Kollateralschäden”

Gestern fand die Frankfurter Sicherheitskonferenz der Grünen im Haus am Dom in Frankfurt statt. Dankenswerterweise gab es einen Livestream, den ich allerdings erst recht spät entdeckte. Pünktlich zum 3. Teil gehörte ich dann aber zu den Zuhörern.
Unter dem Motto “Globale Unsicherheit, sicheres Europa?” redeten Daniel Cohn-Bendit, Isabelle Maras und Omid Nouripour. Hier soll es nur um eine Aussage des Erstgenannten gehen.

Herr Cohn-Bendit, liebevoll Dany genannt, warb dafür, ähnlich wie Cem Özdemir, reflexartige Abwehrhaltungen in Punkto Sicherheitspolitik abzulegen. Speziell die müßige Diskussion über Videoüberwachung müsse endlich beendet werden. Eindringlich schilderte er einen Fall in London, bei dem durch Videoüberwachung ein Anschlag in Londons Nahverkehrssystem verhindert worden sei und fragte, ob man denn wirklich wolle bzw gewollt hätte, dass dort noch mehr Menschen sterben.
Ich war ein wenig erstaunt, denn mir persönlich war bisher kein solcher Fall bekannt. Ich habe per twitter bei einem der Teilnehmer nachgefragt, welcher Anschlag gemeint war, bisher allerdings keine Antwort erhalten.

Die letzte von mir gefundene Meldung über einen Bombenfund in der Londoner U-Bahn ist von Oktober letzten Jahres. Dort wurde allerdings die verdächtige Tasche als vergessenes Gepäckstück von einem Passagier beim Fahrer abgegeben. Das kann also nicht gemeint gewesen sein.

Weithin bekannt sind die Terroranschläge 2005. Zwei Wochen nach den verheerenden Anschlägen in Londons Nahverkehrsnetz mit über 50 Toten und hunderten Verletzen misslang am 21. Juli 2005 ein weiterer Anschlag. In drei U-Bahnzügen und einem Bus explodierten zum Glück nur die Zünder der Bomben, ein fünfter Attentäter legte seine Bombe nur ab ohne den Versuch sie zu zünden. Darauf hin wurden die U-Bahnstationen evakuiert und gesperrt. Die Täter konnten allerdings fliehen.
Dass dabei niemand zu Schaden kam ist also ausschließlich der Unfähigkeit der Bombenbauer und nicht der Videoüberwachung zu verdanken.
Am folgenden Tag wurden die Aufnahmen der Überwachungskameras veröffentlicht und genau an dem Tag erschoss die Polizei einen völlig Unschuldigen.

Jean Charles de Menezes, ein 27 jähriger brasilianischer Elektriker.

Ihm wurde zum Verhängnis, dass er im selben Haus wohnte, wie ein Freund eines der Attentäter, dieses aufgrund einer handschriftlichen Notiz in einem der nicht explodierten Rucksäcke observiert wurde und ein Beamter nach Abgleich mit den CCTV-Bildern eine Ähnlichkeit zu zwei der Attentäter festzustellen meinte. Dieser schickte zwar keine Bilder, empfahl aber die Person näher zu betrachten. Daraufhin befahl die Zentrale weitere Observierung. Mehrere Beamte in zivil fuhren mit dem selben Bus Richtung Metro, waren sich bald sicher den Richtigen zu observieren und meldeten das. Daraufhin wurde der Befehl erteilt, ihn am Einsteigen in einen Zug zu hindern (Code Red tactics) und das Kommando wurde an eine Sondereinheit SO19 übergeben.
Menezes betrat den Bahnhof, bezahlte sein Ticket, fuhr die Rolltreppe runter und rannte zum Zug, um ihn noch zu erreichen. Dort setze er sich unaufgeregt auf den erstbesten Platz. Drei Mitglieder der Sondereinheit folgten ihm in den Zug, einer blockierte die Tür, rief “er ist hier”, woraufhin weitere Beamten der Sondereinheit den Wagen stürmten und Menezes mit sieben Schüssen in den Kopf und einen in die Schulter töteten.

Die Polizei erklärte am selben Tag, dass der Einsatz im Zusammenhang mit dem Anschlägen vom Vortag stand und sie die Order hatte, in den Kopf zu schießen um möglicherweise am Körper getragenen Sprengstoff nicht zu entzünden.

Am nächsten Tag wurde Menezes identifiziert. Von der Polizei wurde bekannt gegeben, dass er weder Sprengstoff bei sich hatte, noch sonst mit den Anschlägen in Verbindung stand. Entgegen der Schilderung der Polizeibeamten sagten Zeugen aus, es habe weder ein Warnung gegeben, noch hätten sich die Polizisten als solche zu erkennen gegeben. Menezes habe sich weder auffällig verhalten, noch trug er verdächtige Kleidung oder Taschen, er habe keine Chance gehabt vor den Schüssen irgendwie zu reagieren.

Im Polizeibericht steht später, dass es aufgrund technischer Probleme keine Videoaufnahmen des Vorfalls gab und auch im Waggon wegen der Beschlagnahmungen vom Vortag die Kamera außer Betrieb war. Auch sonst wirft der Fall viele Fragen zum Vorgehen der Polizei auf.

Drei Tage später identifizierte die Polizei zwei der wahren Attentäter anhand der Überwachungsbilder. Bis zum 29. Juli wurden alle Gesuchten gefasst, am 8.08. wurden sie in Großbritannien verurteilt.

Durch die schnelle Verhaftung konnte also quasi sichergestellt werden, dass die Attentäter keinen (möglicherweise geplanten) erneuten Versuch für ein Selbstmordattentat ausführen konnten. Vielleicht war das von Daniel Cohn-Bendit gemeint ?

Leider hat im Diskussionsteil im Anschluss niemand nachgefragt von welchem Anschlag er sprach. Meiner Erinnerung nach gab es ohnehin nur eine wirklich kritische Nachfrage, die sich aber auf andere Themen bezog. Vielleicht haben die Teilnehmer dort die besseren Informationsquellen, vielleicht hat es aber auch einfach niemanden interessiert. In der Diskussion um Videoüberwachung spielen nachprüfbare Fakten ja allgemein fast keine Rolle mehr.

Sollte er wirklich den 21.Juli 05 gemeint haben, so hinterließe das bei mir ein tiefes Schaudern, denn nicht nur die Verhinderung eines Anschlags durch Videoüberwachung hat es da so nicht gegeben, auch der tragische Tod eines Menschen in dem Zusammenhang wurde einfach verdrängt. Und das nur um überemotionalisiert Stimmung gegen sogenannte Bedenkenträger (die es vereinzelt auch noch in der Grünen Basis gibt) zu machen.
Sollte es einen anderen, wirklich durch Videoüberwachung, verhinderten Anschlag gegeben haben, freue ich mich über einen Kommentar und bitte gern um Entschuldigung.

Wie dem auch sei, er hat damit einen Fall zurück ins Gedächtnis gerufen, der sehr klar dokumentiert, welche Gefahr von vermeintlich objektiven Bildern gepaart mit menschlichem Versagen ausgehen kann.

Als trauriger Abschluss hat seine Familie, die eine Verurteilung der beteiligten Beamten wollte, letztes Jahr den Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verloren. Trotz eines von unabhängiger Stelle erstellten Gutachtens (IPCC), in dem vermeidbare grobe Verstöße im Vorgehen der Polizisten bestätigt wurden.

“The court noted that the facts of the case were undoubtedly tragic and the frustration of Mr de Menezes’ family at the absence of any individual prosecutions was understandable.
However, the decision not to prosecute any individual officer had not been due to any failings in the investigation or the State’s tolerance of or collusion in unlawful acts; rather, it had been due to the fact that, following a thorough investigation, a prosecutor had considered all the facts of the case and concluded that there had been insufficient evidence against any individual officer to prosecute in respect of any criminal offence.”

Menezes hatte nichts falsch gemacht. Er hat eine Fehlidentifizierung aufgrund von Bildern aus einer Überwachungskamera mit seinem Leben bezahlt. Das Mindeste, was wir tun können, ist ihn nicht einfach zu vergessen.

Folgend noch ein paar Artikel zum Nachlesen:
http://news.bbc.co.uk/2/hi/programmes/panorama/4782718.stm
http://www.independent.co.uk/news/uk/crime/revealed-truth-about-the-stockwell-shooting-518088.html
https://www.theguardian.com/uk/2007/nov/01/menezes.jamessturcke2